Berliner Zeitung

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3. Dezember 1964, S. 3.

ALTE KAMPFGEFÄHRTEN. Herzlich schütteln sie sich die Hände, der Meister Paul Omonski (oben im Bild) und Alexej Kotschetkow (im Bild rechts). Vor über 20 jahren standen sie in Berlin mit vielen anderen Genossen in gemeinsamer Front gegen den Faschismus. Damals arbeitete der heutige Patentingenieur Kotschetkow aus Riga im TRO (Foto links Werkausweis Kotschetkows).

Fotos: Schröder

Wiedersehen mit Kamerad ALEX

An jenem Sonntag, dem 22. Juni 1941. herrschten hochsommerliche Temperaturen in Berlin. Die Straßen der Innenstadt waren wie ausgestorben. Die Einwohner suchten in den wasserreichen Randgebieten Erholung. Am Ufer des Langen Sees tummelte sich auch eine Gruppe junger Menschen, die auf den ersten Blick den Eindruck internationaler Touristen machten. Die Unterhaltung wurde In Russisch, Italienisch und Französisch bestritten.

Im Strom der Heimkehrenden ließen sie sich abends zur Stadt zurücktreiben. Am S-Bahnhof Grünau gab es Stauungen. Doch nicht nur der starke Ansturm von Wochenendausflüglern war die Ursache. In der Vorhalle drängten sich die Menschen, rissen ambulanten Händlern druckfrische Zeitungen aus den Händen. Unversehens gerieten auch die jungen Leute vom Ufer des Langen Sees in den Strudel, dröhnten die Schlagzeilen der Ausrufer in ihren Ohren: „Heimtückischer Überfall der Bolschewisten! — Der Führer schlägt zurück! — Deutsche Truppen auf siegreichem Vormarsch!"

Die überfüllten Bahnen poltern über die Weichen. Alexej Kotschetkow steht in eine Ecke gepreßt, blind und taub für seine Umwelt. „Krieg!" denkt er verzweifelt, „Krieg!" Hitlerdeutschland hat die Sowjetunion überfallen, das ist klar für Ihn. Nichts mehr mit dem Paß, den er von der sowjetischen Botschaft in den nächsten Tagen erhalten sollte, zerstört die Hoffnung, endlich in die Heimat zurückzukehren nach so vielen Jahren . . .

Für Bruchteile von Sekunden zucken Bilder durch sein Gehirn, die er fast schon vergessen hatte.

Da war die Kindheit in Moskau, dann der Umzug der Eltern nach Riga. Als 18jähriger kam er 1930 nach Frankreich und studierte in Toulouse drei Jahre Landmaschinenbau. Danach Militärdienst zu Hause in Lettland. 1935 wird Alexej Nikolajewitsch Kotschetkow Student des National-Instituts für Agronomie in Paris, verdient sein Studiengeld mit Gelegenheitsarbeiten und wird Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Frankreichs. Ein Jahr später nimmt ihn die Kommunistische Partei Frankreichs auf.

Der Beginn des Bürgerkrieges sieht Kotschetkow in Spanien. Internationale Brigade — Artillerie-Offizier — Aragon-Front — am Ebro schwer verwundet. Zusammentreffen mit so hervorragenden Internationalisten wie Luigi Longo und Franz Dahlem.

Nach der Niederlage der republikanischen Armee zwei Jahre und zwei Monate in drei verschiedenen französischen Konzentrationslagern interniert. Hunger — Kälte — Schikanen. Dann endlich die Möglichkeit, über Deutschland in die Heimat zu gelangen. Auf Beschluß der Partei lassen sich viele der Genossen von Beauftragten des AEG-Konzerns als Auslandsarbeiter anwerben. Es gibt keinen anderen Weg, den KZ In Frankreich zu entkommen.

März 1941 — Alexej wird Hilfsarbeiter im TRO Berlin-Oberschöneweide. Bei der Botschaft der UdSSR beantragt er seine Anerkennung als Staatsbürger der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland, drängt auf seine Repatriierung in die Heimat. Der Genosse auf dem Konsulat macht ihm Hoffnung, bittet jedoch um Geduld. Die Personalien, die Angaben müßten erst überprüft werden. Das dauere so seine Zeit . . .

Die S-Bahn nähert sich Schöneweide. „Nun ist es zu spät", denkt Alexej. Er fühlt sich niedergeschlagen, enttäuscht, den Ereignissen wehrlos ausgeliefert. Der dumpfe Haß gegen die Faschisten macht ihm die Ohnmacht seiner Lage nur noch mehr bewußt. Aus dem Lautsprecher wird die Station ausgerufen. Benommen tritt erauf den Bahnsteig, unentschlossen, wohin er gehen soll. Ob man ihn wieder verhaften wird? Was soll er tun, ohne Geld, ohne ausreichende Kleidung, mit dem Badepäckchen unter dem Arm?

Der Montagmorgen im TRO beginnt wie immer. Alexej ist als Materialversorger der Abteilung Druckgasschalter I unterwegs. Plötzlich sieht er den dicken Lehmann von der Betriebsleitung, heute in orden-geschmückter SA-Paradeuniform. Der Braune geht von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und renommiert mit dem neuen Feldzug des Führers.

Der Entschluß

„Der fette Kerl macht seine Runde", geht es Alexej durch den Kopf, „macht Nazipropaganda, verbreitet Lügen." Und der Kommunist sowjetischer Staatsangehörigkeit mit den Papieren eines Franzosen faßt den Entschluß: „Ich werde auch Propaganda machen, der Lüge die Wahrheit entgegensetzen."

Nacheinander sucht er Kameraden auf, Genossen, die er schon seit Spanien kennt oder aus den Lagern in Frankreich, Auslandsarbeiter wie er: Mario, den Italiener, Vladislav aus Prag und einige andere. Es bedarf nicht vieler Worte. Der Prager Genosse drückt ihm fest die Hand, ballt dann die Finger zur Faust. Der Schwarzkopf Mario flüstert: „Rote Armee — Hitler kaputt!"

Das Gefühl der Ohnmacht ist gewichen, die Lethargie ist vorbei. Wie von ungefähr geht Alexej den Weg zur Materialausgabe der Nachbarabteilung. Er hofft, den alten Friedrich Murawske hier zu treffen. Seit Wochen beobachten sie sich — jetzt brennt Alexej darauf zu erfahren, was dieser Deutsche über den Krieg gegen Sowjetrußland denkt. Er hat Glück. Friedrich ist allein. Und so findet an jenem 23. Juni 1941 zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Antifaschisten das erste entscheidende Gespräch statt . . .

Wochen später ist es soweit. Über den Genossen Murawske erhielten Alexej und seine Gruppe Verbindung zu Otto Grabowski. Als Verbindungsmann einer Organisation antifaschistischer Widerstandskämpfer in Berlin-Neukölln versorgt er sie mit der illegalen „Roten Fahne", der „Neuköllner Sturmfahne", den von Max Grabowski und seiner Frau Trude in Rudow vervielfältigten Publikationen der „Inneren Front".

Der Anfang der aktiven illegalen Arbelt In Berlin ist für Alexej eine Klebeaktion. Es soll eine erste schwere Prüfung werden.

Alexej hat das Gebiet Johannisthal/Niederschöneweide gewählt. Es ist ein kalter Winterabend. An Häuserwände, Schaufenster klebt er seine Flugblätter. An einer Litfaßsäule stößt er fast mit einem Mann zusammen, der Schutz vor dem Wind sucht, um sich eine Zigarette anzuzünden. Der Fremde murmelt eine Entschuldigung. Aufatmend geht Alexej weiter. Nur noch ein Flugblatt befindet sich in seiner runden Metallschachtel.

Plötzlich stoppt neben ihm ein Wehrmachtsfahrzeug. Zwei Offiziere kommen auf ihn zu. Zur Flucht ist es zu spät. „Wo ist hier die Felixstraße?" bellt einer der Uniformierten heiser. Alkoholdunst weht Alexej ins Gesicht. Ein Stein fällt ihm vom Herzen. Mit ruhiger Stimme gibt er Auskunft. Dann fährt das Auto weiter, und Alexej klebt das letzte Flugblatt an das Geländer der Treskowbrücke...

Das war damals. Jetzt sitzt Alexej Kotschetkow uns gegenüber Wir sehen das gute, hagere Gesicht, die graugewordenen Haare. „Kamerad Alex" wurde er von seinen Freunden genannt. Hier in Berlin begleitet ihn die Genossin Charlotte Bischoff, einst illegale Widerstandskämpferin in der Neuköllner Gruppe, und Wolfgang Flügge. Bildungsstättenleiter im TRO „Karl Liebknecht", dessen Gast Alexej Kotschetkow in diesen Tagen ist.

„Die Klebeaktion", erzählt Genosse Kotschetkow, „war nur eine von vielen Episoden im antifaschistischen Kampf in Berlin. Mit Unterstützung deutscher Genossen — einige von ihnen konnte ich zu meiner Freude jetzt wiedersehen — führten wir vor allem auch in den Zwangslagern der sogenannten Ostarbeiter den politischen Kampf. 1943 gelang es mir, nach Paris zu kommen. Das Zentralkomitee der KPF beauftragte mich u. a. mit der Aufstellung von Partisanenabteilungen aus geflüchteten sowjetischen Kriegsgefangenen."

Eine Bitte

Dann war der Krieg zu Ende. 1945 konnte Alexej Kotschetkow endlich in seine Heimat zurückkehren. Er arbeitet heute in Riga als Patentingenieur in einem Konstruktionsbüro. Gerührt dankt er für den herzlichen Empfang, den die Arbeiter im TRO und die alten Kampfgefährten ihm bereiteten. Hier in Berlin möchte er vor allem Material für ein autobiographisches Buch sammeln.

Gern macht sich die „BZ" zum Vermittler seiner Bitte, daß Teilnehmer am Widerstandskampf und Personen, die mittelbar oder direkt mit Alexej und seiner Gruppe Kontakt hatten oder von deren Arbeit wußten, Berliner, die in den Jahren 1941 bis 1943 im TRO beschäftigt waren und Alexej oder andere Auslandsarbeiter kannten, sich melden mögen. Unter dem Kennwort „Kamerad Alex" erwartet die „BZ" ihre Antwort.